- Averroismus: Die Einzigkeit des Intellekts
- Averroismus: Die Einzigkeit des IntellektsSeit den Entdeckungen der griechischen Mathematik war der Sachverhalt bekannt, dass verschiedene Menschen exakt denselben Gedanken denken können. Auch zeigt sich für die alte Sprachphilosophie, dass beim Übersetzen mitunter in den verschiedenen Sprachen zwar keine völlig äquivalenten Worte zur Verfügung stehen, meistens aber, insbesondere für ganz konkrete Dinge, zwei völlig verschiedene Laute doch dieselbe Bedeutung haben. Wie aber kann man es verstehen, dass zwei verschiedene Menschen unterschiedslos dasselbe denken können? Eine Antwort auf diese Frage hat sich aus einem bestimmten Verständnis eines Autors namens Averroes ergeben.Dieser Muslim hat in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Córdoba geschrieben, und zwar in erster Linie Kommentare zu dem umfänglichen Schrifttum des Aristoteles. Sein Schriftkorpus war aber nicht allein umfänglich, sondern auch äußerst schwer verständlich. Da die arabische Kultur weitaus früher mit Aristoteles umzugehen gelernt hatte, hatte sie einen nennenswerten Vorsprung gegenüber dem lateinischen Westen, der aber dort auch durchaus anerkannt wurde. »Averroisten«, so nannte man die Anhänger jenes Averroes, hat es paradoxerweise nur im Westen gegeben. Aber alle, seine Anhänger wie seine Kritiker im lateinischen Westen, nannten Averroes »den Kommentator« (so wie Aristoteles als »der Philosoph« galt). Dieser hervorragende Kommentator des Aristoteles hat nun gesagt - so verstand man ihn jedenfalls! -, dass alle Menschen nur einen einzigen Verstand (Intellekt) haben. Diese Einzigkeit schien jenes seltsame Problem lösen zu können, dass es im strikten Sinne identische Gedanken bei verschiedenen Menschen gibt. Aber stellen wir uns die Dinge nicht jeweils anders vor? Unsere Eindrücke, Wahrnehmungen, Vorstellungen - sind diese nicht individuell? In der Tat, aber diese hängen auch allesamt mit der Sinnlichkeit zusammen, damit also, dass sie in einem materiellen Wesen vorkommen. Eines der vordringlichsten Probleme des mittelalterlichen Denkens ergibt sich genau daraus: Wie kommt es, dass etwas individuell ist? Die Antwort der Aristoteliker war: Etwas ist dadurch individuell, dass es materiell ist. Zwei Tiger gehören zur selben Art, haben also dieselbe Struktur (innere »Form), doch unterscheiden sie sich äußerlich durch die je andere Materie, in welcher sich dieses Tigersein manifestiert. Das heißt, dass das Immaterielle als solches allgemein ist.Einer der wichtigsten Averroes-Kritiker war Thomas von Aquino. Dieser hat den auch von ihm häufig berücksichtigten »Kommentator« einen »Entsteller der aristotelischen Philosophie« genannt. Thomas hat zwar jene These über das Prinzip der Individuation geteilt, doch in jener Einzigkeitsthese der Averroisten eine Herabsetzung der menschlichen Vernunft gesehen. Denken ist kein kosmischer Vorgang, an dem der einzelne Mensch nur teilhat, sondern als Vollzug etwas strikt Individuelles.Das heißt, unbeschadet dessen kann der Inhalt, das Gedachte als solches, etwas Allgemeines sein; und Begriffe sind immer allgemein. Aus der Form des Gedachten kann man nicht auf die Art des Denkvollzuges schließen.Prof. Dr. Rolf SchönbergerFlasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.
Universal-Lexikon. 2012.